Dies ist ein Brief, den ich einer Freundin nach dem Besuch der (wirklich tollen) Faust-Ausstellung in der Kunsthalle München 2018 geschrieben habe. Vorgeschichte: sie hatte hochauflösende Fotos von Saturn und Jupiter gesehen, und sie hatte gefragt “Unglaublich schön! Wer hat die gemacht?”
Liebe Julia,
wer das fotografiert hat, ist die falsche Frage, weil kein Mensch soweit reisen könnte. Aus der Sicht des Universums befinden sich Jupiter und Saturn keinesfalls “direkt vor unserer Haustür”, sondern sie sind praktisch in der Mitte unseres Wohnzimmers lokalisiert. Jupiter ist (nur!) 800 Millionen Kilometer entfernt, und Saturn (der mit den Ringen) ist nur wenig weiter weg, nämlich 1,5 Milliarden Kilometer. Ein Raumschiff (das übrigens mit mindestens elfeinhalb Kilometern pro Sekunde fliegen muß, fünfzehn mal so schnell wie eine Gewehrkugel) braucht Jahre bis zu diesen Riesenplaneten, und hat keine Möglichkeit, einen Menschen zu transportieren. Deshalb sind diese Fotos von automatischen Raumfahrzeugen aus gemacht worden, die wir (die Menschen) seit den Siebziger Jahren dort hinaus geschickt haben. Wie solch ein Ding aussieht, siehst Du im Anhang.
Immer wieder habe ich von Tieren gelernt. Beispielsweise haben mir Katzen gezeigt, wie man es dauerhaft verhindert, jemals Rückenschmerzen zu bekommen, unter denen ja fast alle Menschen leiden. Und eine Ratte hat mir endgültig klargemacht, warum wir solchen Aufwand betreiben, das Weltall zu erforschen. Und, warum wir solchen Aufwand betreiben müssen:
Mitte der Achtziger hatte meine Freundin Christine für einige Zeit eine Laborratte, die ihr unsere Vermieterin aufschwatzte, welche eine professionelle Rattenfarm in Brunnthal (bei München) betrieb; eine junge Ratte war aus dem Käfig gesprungen, und hätte deshalb getötet werden sollen, weil diese für medizinische Zwecke gezüchteten Tiere absolut steril gehalten werden. Ich hatte monatelang Gelegenheit, dieses Tier zu studieren, was überraschend unterhaltsam und lehrreich war. Es gab einige sehr, sehr witzige Momente, etwa, als wir entdeckten, daß sie sich unter der Küchenspüle in einem toten Winkel einen riesigen “Vorrat” an “nützlichen” Sachen angelegt hatte; alles, was aus Rattensicht für Notzeiten hätte brauchbar sein können, wie gestohlene Toastbrot-Scheiben, Geschirrtücher, verschiedenste Gegenstände, die wir schon vermißt, aber einfach nicht mehr gefunden hatten, und sogar eine Socke, die sie im Badezimmer stibitzt hatte. Was mich aber nachdrücklich beeindruckte, war ihr unbändiger Welterforschungsdrang. Jeden, auch den allerkleinsten und unbedeutendsten Winkel in der Wohnung erforschte sie systematisch; mit einem ganz offensichtlich in ihrem Genom fest eingebrannten Plan, alles, aber auch wirklich alles, was an Weltwissen zu erwerben ihr möglich war, in sich aufzunehmen. Sie ging dabei mit regelrechter Akribie zu Werke; außerdem mit äußerster Vorsicht, da man ja nie wissen kann, wo welche Gefahren lauern.
Während der Beobachtung dieser “Rattenabenteuer” überkam mich die tiefe Erkenntnis, daß wir Menschen uns viel weniger von den Tieren unterscheiden, als wir uns immer einbilden. Okay, wir unterscheiden uns mittlerweile darin, daß wir unsere uns angestammten Urtriebe immer mehr (mit “zivilisatorischen Mitteln”) unterdrücken, und somit (bei Lichte besehen) immer mehr degenerieren. Beispiele hatte ich Dir schon erwähnt, wie etwa die groteske Überbewertung der “Hygiene” (bis hin zu dem ‘modernen’ Wahn der Frauen, ihren Intimbereich so zu verunstalten, daß eine Plastikpuppe erotischer erscheint). In diesen mich in meiner humanen Weltsicht prägenden Achtzigern hatte ich einige “einschlägige” und elementare, und, wenn man sie ‘voreingenommen’ betrachtet, auch sehr peinliche Schlüsselmomente, von denen ich Dir gelegentlich berichten werde…
Aber diese Ratte hat mir gezeigt, daß in Bezug auf Grundlagenforschung immer gern gestellte Fragen, wie beispielsweise, warum die Menschheit Milliarden Dollar für die Erforschung des Universums “verschwendet”, anstatt damit die armen verhungernden Menschen in der dritten Welt zu füttern, vollkommen irrelevant, ja geradezu idiotisch sind:
Wir sind nichts als eine spezielle Rattenart, die ihrem Urtrieb folgt; wie die ersten aus Afrika auswandernden Vorfahren von Christopher Columbus wollen wir wissen und erforschen, “was die Welt im Innersten zusammenhält“.
Und damit schließt sich der Kreis: Wir sind wieder bei Goethes Faust angelangt. Deshalb hast Du mich so begeistert durch diese Ausstellung gehen sehen. Und sicher verstehst Du durch solche Erlebnisse mich (und meine merkwürdige, aber starke tierische Komponente) nach und nach immer besser…